Eine gesunde Sprachentwicklung ist wichtiger Bestandteil der menschlichen Gesamtentwicklung. Bei folgenden Auffälligkeiten läuft die Sprache eines Kindes Gefahr, in ihrer Entwicklungsdynamik beeinträchtigt zu sein oder sie ist bereits manifest vom Normalverlauf abweichend:
- bei der Auswahl und Verwendung von Lauten
- beim Sprachverständnis,
- beim Wortschatz (Abruf und Verwendung situationsangemessener Wörter),
- beim Satzbau,
- bei der Artikulation,
- beim Sprechrhythmus bzw. Sprechablauf,
- beim Kommunikationsverhalten.
Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen (SEV) bzw. spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) weichen in ihren sprachlichen Kompetenzen von der normalen Entwicklung ab.
Je nach Schweregrad der Sprachentwicklungsproblematik ist entweder ein Teilbereich betroffen oder gleich mehrere oder alle Bereiche sind auffällig.
Sprachverständnisstörungen
Eine Störung des Verständnisses gehörter Sprache liegt vor, wenn das Kind nicht adäquat auf seinem Alter angemessen ausgewählte Wörter oder Sätze reagiert. Dabei kann das Gehör durchaus in Ordnung sein. Betroffen ist die nach dem peripheren Höreindruck stattfindende interne, das heißt in den Hörzentren des Gehirns stattfindende Verarbeitung. Dies kann viele Ursachen haben. Z.B. kann eine sog. zentral-auditive Wahrnehmungs- und ‑verarbeitungsstörung vorliegen. Auch die Fähigkeit, zwischen wahrgenommenen Lauten unterscheiden zu können, kann betroffen sein – und dies mit durchaus gravierenden Folgen, denn oft unterscheiden sich Wörter nur in einem Laut voneinander. Auch die Hörgedächtnisspanne kann betroffen sein. Als Folge all dieser Defizite ist das Kind z.B. nicht in der Lage, kurze oder auch komplexere Äußerungen hinreichend zu verstehen oder auf gesprochene Anweisungen zu reagieren. Es kann dabei den „kommunikativen Faden“ verlieren und versteht übergreifende Gesprächseinheiten nicht oder nur unzulänglich.
Ist das System der deutschen Laute vom Kind im Rahmen seiner Sprachentwicklung nicht so übernommen worden, dass es mit der Lautauswahl der anderen Sprachteilnehmer übereinstimmt, spricht man von sog. phonologischen Störungen, bei denen die Laute zwar oft prinzipiell artikuliert werden können, jedoch noch nicht (rezeptiv) verstanden oder (produktiv) eingesetzt werden. Bei phonologischen Störungen kommt es häufig zu falschen Verwendungen von Lauten, so dass ungewollt falsche Wörter verstanden bzw. gesprochen werden können.
Artikulationsstörungen (auch Dyslalien genannt) liegen vor, wenn einer oder mehrere Laute nicht gebildet werden können und daher entweder ausgelassen oder durch Umformung in andere Laute ersetzt werden. Die kindlichen Äußerungen klingen dann undeutlich und sind z. T. so entstellt, dass Personen, die nicht zum direkten Umfeld des Kindes gehören, das Kind nicht verstehen können. Prinzipiell können alle Laute betroffen sein. Ursächlich kann das Kind hochspezialisierte motorische Bewegungsmuster bei der Artikulation (Anbildung der Laute im Mundbereich) nicht programmieren oder ausführen.
Hier einige Beispiele:
„Sule“ für „Schule“: Ersetzen des /sch/ durch /s/
“Topf“ für „Kopf“: Ersetzen des /k/ durch /t/
„Bot“ für „Brot“: Auslassen des /r/ bei der Konsonantenverbindung „br-„
„heits“ für „heißt“: Vertauschung von „-st“ in „-ts“
Die häufigste Form einer Aussprachestörung ist das Lispeln (eine Fehlbildung der Laute /s/ und /z/). Es handelt sich um eine Schwäche der Zungenmuskulatur und ihrer Bewegungs-Koordination beim komplexen Sprechvorgang. Das Lispeln geht oft einher mit Zahnfehlstellungen, weshalb es für die Sprachtherapeutin oftmals sinnvoll ist, eng mit dem behandelnden Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden zusammenzuarbeiten. Übrigens: Oft treten Störungen der Artikulation mit den oben erwähnten phonologischen Störungen gemeinsam auf. Hier müssen diagnostisch präzise Unterscheidungen getroffen werden, um einen zielführenden Behandlungsansatz auswählen zu können.
Der menschliche Wortschatz kann mit einem Lexikon verglichen werden. Ein Lexikon zeichnet sich durch eine auseichende Menge an Worteinträgen und die effiziente Auffindbarkeit dieser Wörter entlang einer Binnensortierung aus. Ein Lexikon funktioniert dann nicht, wenn Seiten herausgerissen wurden, wenn Wörter fehlerhaft oder an der falschen Stelle abgedruckt wurden. Eine Störung des Wortschatzes kann vorliegen, wenn das Kind nicht genügend Wörter lernen (also abspeichern) konnte bzw. bereits abgespeicherte Wörter nicht oder nicht schnell genug aus seinem Wortgedächtnis abrufen kann. Auch der Aufbau, die interne Ordnung des Wortschatzes kann betroffen sein, so dass schon gelernte Wörter nicht hinreichend nach Ober- und Unterbegriffen, Wortfamilien und Bedeutungsfeldern geordnet sind. Prinzipiell bemisst sich die Funktion des Wortschatzes an seiner praktischen Relevanz. Das heißt, dass das Kind genügend Wörter zur Verfügung haben sollte, um Dinge, Tätigkeiten, Ereignisse, Eigenschaften, räumliche oder zeitliche Verhältnisse etc. zu benennen und sich über sie sprachlich zu verständigen. Liegt eine Wortschatzproblematik vor, lässt das Kind Wörter aus, stockt in seiner Rede oder beginnt das fehlende Wort zu umschreiben. Erzählungen klingen dann sehr unkonkret und bedürfen einiger Nachfragen von Seiten des Zuhörers. Z.T. drückt sich ein zu geringer Wortschatz auch in einer allgemeinen Spracharmut des Kindes aus, die es z.T. gestisch zu kompensieren versucht.
Stehen einem Kind im Alter von zwei Jahren nicht durchschnittlich 50 Wörter zur Verfügung und spricht es nur in äußerst einfachen Sätzen (z.B. in Einwortsätzen), dann spricht man von einem sog. „Late Talker“. Um die für den Wortschatzaufbau günstige Entwicklungsphase des Kindes ausnutzen zu können, ist eine sprachtherapeutische Unterstützung bzw. ein speziell dafür entwickeltes Elterntraining solcher Kinder dringend anzuraten.
Nicht selten weisen auch Kinder mit einem Migrationshintergrund, die in zwei Sprachen zugleich aufwachsen, einen verzögerten oder inkompletten Wortschatz auf. Besonders zu vermeiden ist der sog. „Semilingualismus“, bei dem das Kind keine der beiden Sprachen richtig verwendet. Sprachentwicklungsverzögerungen bei Zweisprachigkeit sind ein wichtiger Behandlungsschwerpunkt unserer Praxis.
Oberhalb der Ebene von Einzelwörtern bildet der Mensch Sätze. Im Satz werden Wörter oft verändert, weil sie aneinander angepasst werden müssen. Eine Störung der Grammatik (Dysgrammatismus) liegt vor, wenn das Kind in diesem Bereich konstante Probleme aufweist, indem es
- die Anpassung der Wörter aneinander nicht oder falsch vollzieht (Bsp.: „Ich gehen.“),
- die reguläre Stellung der Wörter zueinander verdreht (Bsp.:„Ich das haben wollen.“),
- nur einfache Satzstrukturen produziert, wo eigentlich komplexere Sätze notwendig wären (dies kann bis hin zu sog. Einwortsätzen gehen, in denen das Kind größere Aussageninhalte in nur einem Wort zusammenfasst; Bsp.: „Ball“ kann in einer bestimmten Situation heißen: „Tim hat mir den Ball weggenommen.“),
bestimmte Wort- und Satzstrukturen auffällig häufig fehl bildet bzw. falsch in den Satz einbettet (Bsp.: Pluralformen, Orts- und Zeitbestimmungen [Präpositionen], Fallformen, Zeitformen [z.B. Vergangenheitsform] u.v.m.)
Die Therapie der Sprachentwicklungsstörung muss aufgrund der Komplexität von Sprache mehrdimensional aufgebaut werden. Alle beeinträchtigten Bereiche werden behandelt, Grundlagen (Bsp.: die Hörverarbeitung) werden als Voraussetzung basal geschult, um ein gezieltes Arbeiten an den o.g. spezifischen Problemen zu ermöglichen.
Die Behandlung der Sprachentwicklungsstörung ist u.a. wichtig, um weiteren Problemen wie z.B. der Lese-Rechtschreibschwäche vorzubeugen.